Das Christentum ist eine ziemlich naive und ziemlich materialistische Religion.
Und doch ist diese Religion auch tief spirituell.
Douglas Harding
Ich habe ziemlich lange darüber gebrütet: Schreibe ich hier eigentlich über Religion oder über Spiritualität? Ich habe herausgefunden, dass ich gleichzeitig über beides schreibe.
Über Religion schreibe ich in dem Sinne, als ich mich auf die reine Wortherkunft von Religion beziehe. Religion kommt vom lateinischen 're-ligio'. 'Re' bedeutet rück oder zurück (deshalb heisst der Schweizer Rückversicherer auch Swiss Re) und 'ligio' bedeutet Bindung oder Verbindung. Religion im Wortsinne ist also Rückverbindung. Der religiöse Mensch stellt so gesehen die Frage: Wo komme ich her? Ist mein Vater ein Mensch oder ist mein Vater Gott?
Über Spiritualität schreibe ich in dem Sinne, als ich mich auf die reine Wortherkunft von Spiritualität beziehe. Spiritualität kommt von 'Spirit' und Spirit heisst Geist. Und Geist ist nicht Materie. Der spirituelle Mensch stellt so gesehen die Frage: Bin ich der Körper - also Materie, oder bin ich Bewusstsein, also Geist?
Religion und Politik
Religion ist und war immer auch politisch. So beziehen die Pfarrpersonen im Kanton Bern noch heute ihren Lohn vom Staat. Die Gesetze der Herrscher waren von Gott gegeben. Die Adligen, welche allein politische Rechte ausüben durften, standen in einer Erblinie, welche letztlich auf eine mythische Figur zurückführte, die direkt vom Himmel auf die Erde herabgestiegen war. Fast immer war die Religion auf Seiten des Establishments. Im Krieg stand Gott hinter der eigenen Nation gegen den Feind, der den gleichen Gott im Rücken wähnte. Es überrascht also nicht, dass so viele intelligente und moralisch empfindende Menschen heutzutage keinen Wert darauf legen, sich Christen zu nennen.
Auch an der christlichen Basis rumort es. Karl O. Schmidt, der Autor des Buches 'Die Religion der Bergpredigt' zürnt: "Die bisherige Geschichte der Christenheit, in der nicht die Religion, sondern die Konfessionen geherrscht haben, ist eine abstossende Raub- und Mordgeschichte, von den Religions- und Eroberungskriegen über die Ketzerverfolgungen und Hexenverbrennungen bis zu den beiden Weltkriegen; sie ist ein einziger Frevel wider den Geist der reinen Lehre Christi. Auch die Kirchen erkennen heute, dass wir 'mit dem Christentum ganz von vorne anfangen müssen', dass die Religion bisher noch kaum Tat geworden ist, sondern dass wir Christen bis heute fast immer das Gegenteil dessen getan haben, was unsere Religion verkündet!"
Drei Punkte tauchen auf.
- Religion ist in der Praxis beides, moralisch und unmoralisch, sowohl für Gerechtigkeit und Mitgefühl und gegen sie.
- Es ist von Zeit zu Zeit notwendig, Religion mit den möglichst härtesten Begriffen zu verdammen.
- Die Verdammung, dieser anti-religiöse Protest, ist selbst - im besten Fall, siehe Karl O. Schmidt, - ein moralischer Vorstoss und Inspiration mit wahrhaft religiöser Qualität.
Religion und Wissenschaft
Für Gott blieb in den klassischen Naturwissenschaften der letzten Jahrhunderte kaum mehr Platz. Er erhielt noch jene Lücken zugewiesen, welche durch wissenschaftliche Erklärungen nicht gefüllt werden konnten. Ein Lückenbüsser-Gott. Heute, auf dem Hintergrund des ganzheitlichen Weltbildes der Quantenphysik, sieht das völlig anders aus. Die allermeisten religiösen Menschen haben das nur noch nicht mitbekommen.
"Am Anfang war Beziehung", heisst es beim jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. Die wissenschaftlichen Entdeckungen im mikrophysikalischen Bereich, also die Entdeckungen der Quantenphysik, scheinen Martin Buber Recht zu geben. Sie zeigen eine Wirklichkeit, die im Kern aus Beziehungen besteht, aus Informationen ohne materielle Träger. Hans-Peter Dürr, der ehemalige Leiter des Max Plank-Instituts für Physik, nennt diese der Materie vorausgehende Wirklichkeit Geist: "Wir könnten sagen, die Wirklichkeit ist letztendlich Geist. Und dann kommt man sehr in die Nähe der religösen Sprache, wenn man sagt, die Materie ist nur nachgeordnet."
Mit dem Geist fängt für Hans-Peter Dürr alles an. Und der renommierte Atomphysiker scheute sich nicht, dafür einen Begriff einzuführen, der nicht der Sprache der Wissenschaft entstammt, sondern jener des Herzens. Hans-Peter Dürr sagt: "Am Anfang ist die Liebe."
Die Nachfolge Jesu
Wie gesagt: Jesus war kein Christ. Er war einer der mutigsten Menschen, von denen ich je gehört oder gelesen habe. An ihm als historische Figur will ich mich orientieren.
Ich finde, es war eine gute Idee jenes christlichen Missionars E. Stanly Jones, Mahatma Gandhi, einen Inder, zu fragen, welches wohl der beste Weg sei, den nichtchristlichen Teil der Menschheit wirklich und dauernd für das Christentum zu gewinnen. Ich entnehme die Worte Gandhis aus dem Buch von K.O Schmidt:
"Erstens würde ich raten, dass ihr Christen alle miteinander damit anfangt, so zu leben, wie Christus lebte."
"Zweitens würde ich den Rat geben, eure Religion voll und ganz in die Tat umzusetzen, ohne den Worten Christi Gewalt anzutun und ohne sie durch Abschwächung und Veränderungen zu entstellen."
"Drittens würde ich vorschlagen, dass ihr den Nachdruck auf die Liebe legtet; denn die Liebe ist Mittelpunkt und Seele des ganzen Christentums."
"Viertens würde ich empfehlen, dass ihr die nicht-christlichen Religionen und deren Kulturen mit mehr Verständnis studiert, damit ihr das Gute erkennt, das in ihnen ist, - und dass ihr auch Andersdenkenden mit mehr Liebe begegnet."
Felix Baumgartner